Adcubum AG

Maschinenraum statt Sonnendeck: Die Folgen der Low-Touch-Gesellschaft

think.future, News

Die Auswirkungen von Covid-19 auf die Versicherungsbranche

St. Gallen, 10. August 2020

Franz Bergmüller, CCO von Adcubum spricht über die Auswirkungen von Covid-19 auf die Versicherungsbranche.

In den ersten Monaten nach dem Corona-Ausbruch standen nicht nur in der Politik die Notfall-Manager im Blickpunkt. Auch in der Versicherungsbranche wurden schnell Verhaltens- und Abstandsregeln aufgestellt und ein Gutteil der Arbeit konnte mehr oder minder vom Homeoffice aus erledigt werden – Abstand halten allerorten. Nun wird immer klarer, dass „Low Touch“ weit mehr als die Vermeidung physischer Nähe bedeutet. Die Auswirkungen dieses Wandels treffen die Versicherer bis in ihre Kernsysteme.

Deutschlands Versicherungsunternehmen haben die organisatorischen und hygienischen Herausforderungen im Kampf gegen die Ausbreitung von Covid-19 in den meisten Fällen gut gemeistert. Kein Wunder. Eine Pandemie an sich war für die deutschen Versicherer keine komplette Unbekannte. Sie wird in jedem guten Risikomanagement-Bericht seit Jahren gewissenhaft aufgeführt – Notfallpläne inklusive.

Die langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft und damit auch auf die Kunden und Mitarbeiter waren und sind hingegen nach wie vor nicht leicht einzuschätzen und somit die eigentliche Herausforderung für die Branche. Denn glaubt man den Virologen, wird uns Corona – trotz oder vielleicht sogar wegen aller Lockerungen – noch eine ganze Zeit begleiten. Und das wird Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Versicherungsmanager wird es daher sein, ihr Unternehmen auf eine dauerhafte „Low-Touch-Gesellschaft“ auszurichten. Was das bedeutet wurde jüngst in der Studie „Shifts in the Low Touch Economy“ des Beratungshauses Board of Innovation eindrücklich dargestellt.

Abstand plus Automatisierung
Für die Zukunftsfähigkeit eines Versicherers ist es dabei entscheidend, die Bedeutung von „Low Touch“ nicht allein auf die Vermeidung physischer Nähe zu reduzieren, sondern auch die zweite Bedeutung zu berücksichtigen: etwas mit nur wenigen Handgriffen bis hin zur vollen Automatisierung zu erledigen. Gerade diese Lesart birgt viele Chancen, die sich aus dem veränderten Verhalten von Kunden und Mitarbeitern ergeben werden oder sich schon ergeben haben.

Denn so heilt die Zeit zwar viele Wunden, aber wir müssen davon ausgehen, dass Kunden und Mitarbeiter künftig mehr Vorsicht an den Tag legen sowie ihre Gesundheit und Work-Life-Balance stärker schätzen und schützen werden. Dazu wird auch gehören, das eigene Umfeld intensiver zu beobachten, wenn nicht sogar zu kontrollieren. Oder werden Sie es künftig tolerieren, wenn ein Kollege sich mit triefender Nase neben Sie ins Großraumbüro geschweige denn in die Firmenkantine setzt?

Vom „Corona-Cocooning“ bis zum Recht auf Homeoffice
Dass die Menschen mehr Abstand voneinander haben wollen, wird nicht nur das Thema Mobilität (Fahrten im privaten PKW statt im öffentlichen Personennahverkehr, Verzicht auf Flugreisen) betreffen, sondern auch den Wunsch nach Remote Work (Generation Homeoffice) stärken. Schon im Herbst soll es einen Gesetzesentwurf geben, der jedem das Recht auf Homeoffice zuspricht. Abgerundet wird dieses „Corona-Cocooning“ durch die beschleunigte Verlagerung von immer mehr Einkäufen ins Web – Lieferung jeglicher Güter nach Hause inklusive.

Und schließlich haben neue Technologien quasi über Nacht bei allen Altersklassen einen enormen Akzeptanzschub erhalten. Egal ob es der Videochat per Smartphone mit den Großeltern ist oder das virtuelle Meeting mit den Kollegen per Collaboration-Software – alles ist in wenigen Wochen zur neuen Normalität geworden.

Allein diese drei geschilderten Effekte bieten riesige Chancen für die Versicherer, um nun die folgenden Themen beherzt anzugehen:

  1. Die Kostenquoten noch stärker senken durch Digitalisierung und Industrialisierung der Prozesse. Laut einer McKinsey-Untersuchung geht die Schere zwischen Versicherern mit hohen und solchen mit niedrigen Kostenquoten in den vergangenen Jahren immer weiter auf. Ein zentraler Grund: Die Kostenführer haben viel in Digitalisierung sowie Automatisierung investiert und fahren jetzt die Ernte ein. Einfaches und papierloses Arbeiten vom Antrag bis zum Großschaden sollte jetzt also überall und vor allem schnell Realität werden.
     
  2. Neue Arbeitsformen rasch einführen und konsequent ausbauen. Neben der Frage, ob man künftig noch Bürokomplexe in der heutigen Dimension braucht, spielt hier der Faktor Technologie ebenfalls eine entscheidende Rolle. Denn was hilft ein Recht auf Homeoffice, wenn viele Prozesse immer noch papiergebunden sind und der Zugriff auf zentrale Daten aus dem Homeoffice nicht oder bestenfalls eingeschränkt funktioniert.
     
  3. Die Vertriebe mit digitalen Technologien aufrüsten, damit Kunden etwa per Video beraten und direkt zum Abschluss geführt werden können. Sicherlich erhalten Direktversicherer künftig noch mehr Schwung, aber die bessere Ausrüstung der Vertreter und Makler „klassischer“ Versicherer bietet aus Vertriebssicht sicher das noch viel größere Potenzial.

Klingt logisch und einfach? Nur auf den ersten Blick. Um das umzusetzen, muss es der Versicherungsbranche gelingen, Digitalisierung nicht mehr mit sexy Apps und Webseiten gleichzusetzen, sondern die großen Hebel zu bedienen und ihre Kernversicherungssysteme konsequent zu modernisieren.

Laut einer KPMG-Studie aus dem vergangenen Jahr sind bei 62 Prozent der Versicherer die Host-Systeme bereits älter als 20 Jahre – mangelnde Flexibilität, hohe Betriebskosten und sich nach und nach in den Ruhestand verabschiedende IT-Experten inklusive. Die Folgen laut KPMG: Versicherer mit historisch gewachsenen Altsystemen werden erhebliche Schwierigkeiten haben, am Markt konkurrenzfähig zu sein, da diese Systeme den geänderten Anforderungen an das Versicherungsgeschäft nicht mehr gerecht werden.

Aus meiner Sicht ist daher auch ein „Low-Touch-Geschäftsmodell“ nur mit modernen Kernversicherungssystemen umsetzbar, damit Versicherungsprodukte in wenigen Schritten, papierlos und ohne physische Nähe abgeschlossen, Verträge verwaltet und Schäden reguliert werden können.
Das ist die notwendige Basis, um in der Low-Touch-Gesellschaft bei Kunden, Mitarbeitern und Vertriebsexperten zu reüssieren und gleichzeitig die Kosten zu senken. Wer hierbei erfolgreich sein möchte, muss allerdings bereit dazu sein, das Sonnendeck zu verlassen und in den Maschinenraum zu den Kernversicherungssystemen hinabzusteigen. Der Weckruf der Pandemie darf trotz aktuell sinkender Infektionszahlen nicht verhallen.

Franz Bergmüller, CCO Adcubum AG