Private Krankenversicherer sehen in der Digitalisierung den wichtigsten Trend
Die Krankenversicherer stecken in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess, denn das wirtschaftliche, gesellschaftliche und technische Umfeld wandelt sich in hohem Tempo: Die Menschen leben immer gesundheitsbewusster, der Anteil der Älteren an der Bevölkerung wächst und die Versicherten verlangen mehr Autonomie. Zudem bedrängt die schnelle Entwicklung neuer Technologien das klassische Geschäftsmodell der Versicherungen. Wollen sie zukunftsfähig bleiben, müssen sie sich umstellen – zum Teil erheblich. Die Anbieter in der DACH-Region haben das weitgehend erkannt, wenngleich die Umsetzungsstände in den einzelnen Häusern sehr unterschiedlich sind.
In einem Punkt stimmen die Krankenversicherer überein: Die Verlagerung von Geschäftsprozessen und Kundeninteraktionen in elektronische Systeme, sprich die Digitalisierung, ist die wichtigste Strömung ihrer Branche. Als weitere Top-5-Trends sehen die Befragten den medizinischen Fortschritt (94 Prozent), den demografischen Wandel (92 Prozent), die Industrialisierung (77 Prozent) und das Thema E-Health, also die Verwendung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen (73 Prozent).
Kundenverhalten, digitale Transformation und Konversion der Märkte als Treiber
Auf dem Weg ihrer Branche in die Zukunft machen die Studienteilnehmer insbesondere drei Treiber für Veränderungen aus. Erstens hat der Verbraucher andere Bedürfnisse als früher. Er wünscht individuelle, flexible Produkte und schätzt zusätzliche Leistungen, die über den Versicherungsschutz hinausgehen. Überdies erwartet er eine hohe Erreichbarkeit über sämtliche Kommunikationskanäle hinweg. Das Stichwort in diesem Zusammenhang heißt Omnikanal, was bedeutet: Der Versicherte möchte sich über mobile Endgeräte, via PC, persönlichen Kontakt und telefonisch mit seinem Anbieter verständigen. Unserer Beobachtung nach beherrschen zahlreiche Krankenversicherer die heute vorhandenen Kontaktkanäle noch nicht ausreichend gut.
Zweiter Treiber ist die digitale Transformation der Krankenversicherer. Sie ist die Voraussetzung für die gerade beschriebene Omnikanalfähigkeit, die Entwicklung smarter Produkte und Prozesse sowie eine 360-Grad-Sicht auf den Versicherten. Letztere meint, schnell auf alle relevanten in- und externen Kundendaten zugreifen zu können. Die Interaktion des Versicherers mit seinen Kunden und Kooperationspartnern führt zu einer Zunahme der kundenbezogenen Daten. Weitere Informationen erzeugen neue digitale Anwendungen wie beispielsweise die Leistungsabrechnung über Apps oder der Einsatz von Fitnesstrackern und anderen mobilen Gesundheitsanwendungen. Auch diese Daten muss der Versicherer aufnehmen, speichern und verarbeiten.
Der dritte Treiber für Veränderungen ist die Konversion der Märkte. Die Branchengrenzen verschwimmen, neue Geschäftsmodelle entstehen. Dies fördert und ermöglicht Kooperationen – branchenintern wie -extern. Und so tummeln sich immer mehr Start-ups in der Versicherungswirtschaft, die mit innovativen Leistungen die Schnittstelle zum Kunden besetzen.
Datenberge und Insellösungen
Die Folge all dieser Veränderungen ist, dass die Krankenversicherer über diverse neue Daten verfügen, die sie möglichst nutzbringend auswerten müssen. Bislang arbeiten viele Anbieter mit Insellösungen, ihre Daten liegen also in mehreren Systemen, die auf unterschiedlichen Technologien aufsetzen und wenig miteinander vernetzt sind. Folge sind Redundanzen und – daraus resultierend – Inkonsistenzen, welche die Arbeit mit den Daten erschweren.
Ziel ist es, diese Datensilos aufzulösen oder zumindest miteinander zu vernetzen. Dazu können die Anbieter Technologien wie Datawarehouses nutzen. Die Herausforderung besteht darin, sämtliche Daten, auch die teilweise schlecht strukturierten aus den sozialen Medien, auf die gleiche Qualität zu bringen und ihre Quellen so zu verknüpfen, dass sie aussagekräftige Analysen und gleichzeitig eine möglichst umfassende Bearbeitung erlauben. Dabei helfen können neue Auswertungstechniken – so genannte Big Data Analytics beziehungsweise Predictive Analytics. Acht von zehn Teilnehmern der Studie halten diese Methoden für notwendig, um Nutzen aus den steigenden Informationen ziehen zu können. Bis es so weit ist, haben die Versicherer aber noch viel zu tun: Mindestens jeder Zweite sieht einen sehr hohen Handlungsbedarf (56 Prozent), und weitere 28 Prozent der Befragten einen mäßigen.
Neue Tools für die Auswertung der Daten
Bevor ein Versicherer die neuen Datenauswertungstechniken einsetzen möchte, sollte er wissen, was er mit den daraus gewonnenen Informationen verändern oder steuern möchte. Das könnten Behandlungs- und Leistungsverläufe seien, zusätzliche Kundenservices oder der Vertrieb. Bei chronischen Erkrankungen beispielsweise werden sich Predictive Analytics immer mehr durchsetzen. Denn hier sieht der Versicherer, wie das Krankheitsbild abläuft, was er optimieren und wie er diesen Prozess industrialisieren kann.
Bislang verwenden Versicherer die Analysen aus den Auswertungstechniken nur punktuell. Ein Grund dafür liegt in der technologischen Komplexität des Themas. Mit einer breiten Nutzung ist erst dann zu rechnen, wenn hierfür Standardsoftware-Produkte zur Verfügung stehen. „Der Versicherer hat die Daten, beherrscht aber in dem Sinne noch nicht den Umgang mit ihnen. Wir ‚üben‘ es gerade, können aber einfach den monetären oder qualitativen Nutzen noch nicht immer beweisen“, erläutert Martin Wettstein aus der Geschäftsleitung der Swica Krankenversicherung.
Möchten die Krankenversicherer die neuen Werkzeuge in größerem Umfang nutzen, ist es erforderlich, kompetente Mitarbeiter auszubilden oder mit anderen Anbietern zu kooperieren. Die Unternehmen müssen sich in ein Netzwerk einfügen, in dem andere Akteure des Gesundheitsmarktes Prozesse und Leistungen für sie übernehmen. An dieser Stelle bedarf es gemeinsamer Datenpools, auf die dann alle beteiligten Parteien Zugriff hätten. Swica-Manager Wettstein: „Alle Versicherungen müssten die Daten teilen, denn es macht einfach keinen Spaß, wenn ich nur auf meinen 700.000 Kunden Analytics durchführe.“
Branche strebt die elektronische Patientenakte an
„Das angestrebte Endprodukt ist die elektronische Patientenakte, in der alle Patientendaten vereint werden, sodass Sie alle möglichen Auswertungen vornehmen können: Arzneimittelunverträglichkeiten, Doppeluntersuchungen vermeiden und so weiter“, sagt Dr. Volker Leienbach, geschäftsführendes Vorstandsmitglied beim Verband der Privaten Krankenversicherung. „Diese elektronische Patientenakte stellt allerdings noch eine Reihe an technischen Anforderungen, Datenschutzfragen et cetera.“
Die Studienergebnisse spiegeln dies wider: So sehen 76 Prozent der an der Befragung beteiligten Krankenversicherer die Notwendigkeit, die internen IT-Systeme mit externen zu vernetzen, etwa mit denen von Arztpraxen und Krankenhäusern. Es geht darum, künftig Synergieeffekte nutzen zu können – im Fachjargon Connected Health. Doch auch an dieser Stelle steht die Branche beziehungsweise der gesamte Gesundheitsmarkt erst am Anfang. 53 Prozent der Krankenversicherer machen einen sehr hohen Handlungsbedarf aus, weitere 26 Prozent einen mäßigen.
Es wird somit zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor der einzelnen Krankenversicherer werden, wie sie ihre IT-Landschaft modernisieren und wie sie der zunehmend komplexer werdenden Datenspeicherung begegnen wollen. Ob dies nun im eigenen Datawarehouse oder unter Zuhilfenahme eines Serviceproviders geschehen mag: Wer den Datenberg nutzen möchte, wird in Zukunft vermehrt Big Data und Predictive Analytics verwenden. Damit werden in der Krankenversicherung von morgen medizinische ebenso wie technische Kompetenzen gefragt sein.
Von Jens Ringel, Geschäftsführer der Versicherungsforen Leipzig GmbH und Michael Süß, Geschäftsführer der Adcubum Deutschland GmbH